Rechtsphilosophie hat eine Doppelnatur: Sie ist Grundlagendisziplin der Rechtswissenschaft und Spezialdisziplin der Philosophie. Sie ist daher immer schon interdisziplinär. Zu Rechtsphilosophie i.w.S. sagt man heute "jurisprudence".
Theorie der Rechtswissenschaft
Die Theorie der Rechtswissenschaft untersucht den Begriff der Rechtswissenschaft, deren Geschichte als wissenschaftliche Disziplin und das System der rechtswissenschaftlichen Teildisziplinen. Probleme dieses Forschungsschwerpunktes sind insbesondere der wissenschaftstheoretische Status der Rechtsdogmatik sowie die Natur der Rechtsphilosophie.
Graz Jurisprudence folgt dem Konzept integrativer Rechtswissenschaft: Wir begreifen die Rechtswissenschaft als im Schwerpunkt analytisch-normativ, berücksichtigen jedoch auch die empirische Dimension des Rechts.
Abgeschlossene Projekte (Auswahl):
- Klatt, Matthias (2015): Integrative Rechtswissenschaft. Methodologische und wissenschaftstheoretische Implikationen der Doppelnatur des Rechts. In: Der Staat 54 (4), S. 469–499.
Rechtsphilosophie im engeren Sinn
Die Rechtsphilosophie im engeren Sinne ist eine genuin philosophische, hauptsächlich normative Disziplin. Sie hat zwei Gegenstände: Erstens die Fragen von Begriff und Geltung des Rechts. Zweitens die Probleme von Begriff und Theorie der Gerechtigkeit (Naturrecht, Vernunftrecht, Rechtsethik). Im Kern geht es um drei Dinge: Was sind die spezifischen Elemente des Rechts, und wie ist ihr Verhältnis zueinander? Wie ist der Verhältnis zwischen Rechtsnormen und der faktischen, sozialen Realität des Rechts (Zwang und Gewalt, institutionalisierte Prozeduren der Schaffung und Anwendung von Rechtsnormen, Wirksamkeit und Anerkennung von Rechtsnormen)? Wie ist das Verhältnis zwischen Recht und Moral (Richtigkeit und Legitimität des Rechts).
Graz Jurisprudence arbeitet auf Basis der nichtpositivistischen These von der Doppelnatur des Rechts.
Abgeschlossene Projekte (Auswahl):
- Klatt, Matthias (Hg.) (2012): Institutionalized Reason. The Jurisprudence of Robert Alexy. Oxford: Oxford University Press.
- Klatt, Matthias (2016): The Rule of Dual-Natured Law. In: E. T. Feteris, H. Kloosterhuis, H. J. Plug und C. E. Smith (Hg.): Legal Argumentation and the Rule of Law. The Hague: Eleven International Publishing, S. 27–46.
Rechtstheorie
Die Rechtstheorie ist eine genuin juristische, im Kern analytische Disziplin. Sie hat zwei Teilbereiche. Erstens untersucht die Rechtstheorie die Trias von Rechtsbegriff, Rechtsnorm und Rechtssystem. Hier geht es im Sinne einer allgemeinen Rechtslehre um die Analyse grundlegender Begriffe der Rechtswissenschaft, um das System der Arten von Rechtsnormen sowie um die Elemente, Strukturen und Funktionen von nationalen, supranationalen und internationalen Rechtssystemen.
Zweitens gehört die gesamte Theorie der juristischen Argumentation zur Rechtstheorie. Erörtert werden hier die drei grundlegenden Methodenarten der Rechtswissenschaft: Auslegung, Rechtsfortbildung und Abwägung. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei dem Problem der Bindung der Richter an Recht und Gesetz sowie der Frage der Rationalität juristischer Entscheidungen.
Graz Jurisprudence folgt einem analytischen und diskurstheoretischen Forschungsansatz.
Abgeschlossene Projekte (Auswahl):
- Klatt, Matthias (2008): Making the law explicit. The normativity of legal argumentation. Oxford: Hart Publishing.
- Klatt, Matthias (2016): The Rule of Dual-Natured Law. In: E. T. Feteris, H. Kloosterhuis, H. J. Plug und C. E. Smith (Hg.): Legal Argumentation and the Rule of Law. The Hague: Eleven International Publishing, S. 27–46.
- Siedenburg, Philipp (2016): Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung. Zur Argumentationsfigur der einzig richtigen Entscheidung: Nomos.
Was ist Rechtsphilosophie?
Rechtsphilosophie ist Argumentation über die Natur des Rechts. Ihr Gegenstand lässt sich in drei Kernfragen zusammenfassen:
1. Aus welchen Einzelelementen besteht das Recht, und in welchem Zusammenhang stehen diese Elemente zueinander?
2. Welche Beziehung besteht zwischen Rechtsnormen und der sozialen, faktischen Realität des Rechts?
3. Wie ist das Verhältnis von Recht und Moral?
Diese Fragen untersucht die Rechtsphilosophie auf eine reflexive, generelle und systematische Weise. Die Rechtsphilosophie ist reflexiv, weil sie nach den Bedingungen und Grenzen rationaler Erkenntnis des Rechts fragt. Sie ist generell, weil sie sich nicht spezifischen Rechtsproblemen, sondern den fundamentalen Fragen von allgemeiner Bedeutung widmet. Und sie ist systematisch, weil sie sich am holistischen Ideal der Einheit von Erkenntnis orientiert und eine Synthese der Einzelerkenntnisse über das Recht anstrebt.
Weil Graz Jurisprudence diesem integrativen Vollständigkeitsideal verpflichtet ist, beziehen wir - dies hat in Graz eine lange Tradition - die Rechtssoziologie und andere empirische Erkenntnisse über das Recht mit ein. Zudem kooperieren wir eng sowohl mit der praktischen und politischen Philosophie als auch mit soziologischen, ökonomischen und politikwissenschaftlichen Instituten.
Wir freuen uns über eine wachsende Zahl von Gastwissenschaftlern aus dem Ausland, die Forschungsaufenthalte bei uns verbringen und den lebendigen Diskurs unserer Arbeitsgruppe weiter bereichern.
Wozu Rechtsphilosophie?
Die Summe des juristischen Wissens ist ohnehin nicht mehr zu überblicken. Der Rechtsstoff wächst ständig weiter.
Wozu auch noch Rechtsphilosophie?
Gerade weil die Komplexität unserer Rechtsordnungen steigt, wird rechtsphilosophische Kompetenz immer relevanter. Juristische Forschung und Praxis sind für die Bewältigung rechtlicher Probleme auf die Orientierungsleistung und den analytischen Blick rechtsphilosophischer Expertise immer stärker angewiesen.
Rechtsphilosophie hat zudem eine aufklärerische Dimension, weil sie die kritische Auseinandersetzung mit Normen, Rechtssätzen und Urteilen fördert. Sie hat schließlich eine methodologische Dimension, weil sie die Voraussetzungen der richtigen Begründung rechtlicher Entscheidungen klärt. Sie fördert damit die Qualität juristischer Argumentation.
Mit all dem ist der extrinsische Wert der Rechtsphilosophie bezeichnet. Dieser besteht in der orientierenden, analytischen, aufklärerischen und methodologischen Bedeutung der Rechtsphilosophie für die Praxis.
Daneben hat die Rechtsphilosophie einen intrinsischen Wert. Sie erlaubt uns, präziser zu wissen, was genau wir meinen, wenn wir von Recht sprechen. Rechtsphilosophie führt zu einem höheren Maß an kognitiver Reflexivität in den Rechtswissenschaften: sie erlaubt eine präzisere Kenntnis davon, was genau wir tun, wenn wir rechtlich denken, argumentieren und handeln. Denn die Antworten auf die oben genannten drei Kernfragen der Rechtsphilosophie prägen das Grundverständnis, die professionellen Identitäten und die Qualität des juristischen Handelns in allen juristischen Berufen.